Fragen
zu den „Empfehlungen des Wissenschaftsrats“
und ihre mögliche Beantwortung
–
ein Appell
Kurzfassung
Die "Empfehlungen zu einem
Wissenschaftstarifvertrag und zur Beschäftigung wissenschaftlicher
Mitarbeiter", die der Wissenschaftsrat am 30. Januar 2004 vorstellte,
„stimmen in ihren grundsätzlichen inhaltlichen Aussagen mit unseren
Auffassungen überein“, erklärte der FB Bildung, Wissenschaft und Forschung
von ver.di.
Der Gedanke, hier könnte eine
ausgebliebene Kontroverse zu vermuten sein, führt schnell zu einer anderen,
weniger vorteilhaften Lesart: Nachdem der wissenschaftliche Mittelbau die seit
gut 25 Jahren laufende Lektion verstanden hat und seine Laufbahn an allen
wissenschaftlichen Einrichtungen vorbei plant, soll ihm nun eine Perspektive
vorgegaukelt werden, indem die damals eingeführten Nachteile zum Regelfall der
Beschäftigung nach einem neu einzurichtenden „Wissenschaftstarif“ erklärt
werden und damit folgerichtig aus dem Vokabular der Grausamkeiten verschwinden.
Sollte diese Sichtweise –ob intendiert
oder nicht– sich durchsetzten, so kann bestenfalls mit einer Latenzzeit von
weiteren 25 Jahren gerechnet werden. Der Preis dieses kostenlosen Aufschubs wäre
die Schlechterstellung auch des nicht-wissenschaftlichen Personals. Dazu sollten
sich weitsichtige Verantwortliche (und vor allem ver.di) äußern – evtl. auch
zur fiktiven (aber realistischen) Fallstudie am Ende dieser Stellungnahme.
Persönliches Vorwort
Als „78er“ habe ich noch in
Studienjahren die erste Schlechterstellung der Wissenschaftsbetriebe miterlebt.
Der Wunsch, nach dem Diplom eher meinem Fach als einer diffusen
Karriere-Vorstellung nachzugehen, führte („vorläufig“) zu jahrelanger
Beschäftigung mit Drei- bis Sechsmonatsverträgen, zu Gehältern unterhalb des
damaligen BAFöG-Satzes und unter Ausschluß sogar einer Krankenversicherung,
zur Aussetzung der Willkür mächtiger Professoren, die mit einem Telefonat
jeden Institutswechsel innerhalb der näheren geografischen Umgebung vereiteln
konnten. Mit unverminderter Begeisterung für meine Arbeit wählte ich nach geglückter
Flucht und Unterzeichnung des ersten befristeten BAT-Vertrages mein Büro auch
als Urlaubsort, um erst später zu merken, daß ich damit im Falle eines Unglücks
am Arbeitsplatz einen unversicherten Urlaubsunfall hätte melden müssen. Die
Belohnung, gerechnet in Noten, Kommentaren und Publikationen, war
zufriedenstellend, aber die Perspektive, ein Arbeitsleben auf Zeit zu
„fristen“ trieb mich in die Arme derselben Verhältnisse und Konzerne, denen
ich zuvor zu entkommen trachtete. Es folgten zehn Jahre auf verlorenem Posten
gegen all diejenigen, die eine Division durch Null als „neues
Software-Feature“ verkaufen, als Don Quichot im Einsatz für das Fach und für
redliche Kollegen, an deren Werdegängen mir erst klar wurde, wie sehr mich das
Schicksal geschont, ja nahezu privilegiert hatte – eine ständige
Gratwanderung zwischen Rebellion und Prostitution.
Natürlich schiebt eine solche berufliche
Entwicklung eine Brille vor, die jede „Reform“ beäugen läßt mit der Prämisse:
„Was soll noch alles ermöglicht werden?!“ Ob dies den folgenden Text abschwächen
oder verstärken sollte, muß jede/r für sich entscheiden.
Defizitanalyse und
erste Geschmacksproben
Der Vater des Reformgedankens wird vom
Wissenschaftsrat offen benannt (S. 2): Die für „Hochschulen
und außerhochschulische Forschungseinrichtungen“ bestehenden „Schwierigkeiten
bei der Gewinnung und Haltung von hochqualifiziertem Personal in den Natur- und
Ingenieurwissenschaften“; soweit herrscht Einigkeit.
Die verbleibenden 32 Seiten sollen die Lösung
herleiten. Und schon jetzt soll der zu behebende Mangel näher spezifiziert
werden. Doch nicht etwa unterbezahlte, befristete oder gar gestrichene Stellen,
fehlende Infrastruktur, erstickende Geldnot, archaische Ausstattung oder gängelnde
Genehmigungsverfahren sollen beseitigt werden; vielmehr (S. 3 Mitte): „muss
die Eingruppierung von Tätigkeiten umfassend vereinfacht werden. Sie soll primär
aufgabenbezogen und nicht nach der formalen Qualifikation erfolgen.“ –
nach dem Motto: „Fräulein Gertrud, Sie sind eigentlich als Hilfslaborantin
eingestellt worden, aber Sie sind zur tragenden Säule des
Wissenschaftsgeschehens geworden. Wollen Sie sich nicht umstufen lassen von BAT
XIIy (exterritorial-Ost) auf BBesO C5 (exorbitant-West)?“ In umgekehrter
Richtung ist es bekanntlich gar nicht erst vorstellbar, wachen doch nicht
weniger als 16 Landesregierungen darüber. Honi soi qui mal y pense (für
Franzenmuffel: Verachtet sei, wer Arges dabei denkt). Konsequent konstatiert
auch die Pressemitteilung von ver.di: „Übereinstimmung
bestünde auch bei den Empfehlungen (...) zu einer durchlässigen
Eingruppierung.“
Wer aber an dieser Stelle ins Grübeln
kam, hatte schon eine erste wichtige Aussage überlesen (S. 3 oben): „Das System der Entgeltbestimmung muss entschieden vereinfacht
werden.“ – sozusagen: Der Anstellungsvertrag auf einem Bierdeckel als
vertrauensbildende Maßnahme? SchnellleserInnen lesen da weiter, stolpern ggf.
über das o.a. Fräulein Gertrud und sind einen Absatz weiter mit einer nur
scheinbar neuen Aussage konfrontiert (S. 3): „Zwingende Gründe für die Verbeamtung von Hochschullehrern sind
nicht erkennbar. Daher kann im Wissenschaftsbereich langfristig auf den
Beamtenstatus verzichtet werden.“
Das ist jetzt aber recht konkret: Da
beschließt eine (noch zweistellige?) Anzahl von Persönlichkeiten, zumeist
Professoren, darunter wohl kaum Nicht-Beamte, der Professoren-Job sei kein Amt
– d.h. nach meiner bescheidenen Vorbildung: keine staatstragende Infrastruktur
wie Politiker, Polizist oder Lehrer, eher ein Pendant zum Filmstar, Missionar
oder Redakteur. Eine wichtige Aufgabe solange eine Maßnahme von sich aus läuft,
aber keine von jenen, die man partout aufrechterhält, um den Fortbestand des
Gemeinwesens zu sichern. Das sehe ich entschieden anders und gestehe, daß ich
die Jobs bei Bundespost und Bundesbahn ähnlich sah, als es diese Betriebe noch
gab.
Und das Urteil meiner Gewerkschaft? „Ebenso wie wir sieht der Wissenschaftsrat keinen Grund für den
Beamtenstatus in Hochschulen und Forschungseinrichtungen“, ertönt es aus
der ver.di-Zentrale. Aber warum?
Viele assoziieren zum Beamtenstatus
„fehlendes Streikrecht“ – zu Recht, zumal hier Regelungen des Kaiserreichs
und seiner Logik weiterleben. Ist ver.di besorgt über die mangelhafte
Streikbereitschaft meiner KollegInnen? Wäre es nicht eher ein Grund, die Einführung
des Streikrechtes für Beamte zu fordern?
Natürlich geht mit der Verbeamtung auch
eine Beschäftigungsgarantie einher – als Folge der Fortbestandsgarantie für
das Amt (Parlament, Polizei, Schule können nicht „wg. Geschäftsaufgabe“ kündigen)
und als Ausgleich für die schlechtere Bezahlung und die geringeren Freiheiten.
Letztere werden ver.di stören; doch warum soll ein ganzer Status aufgegeben
werden? Welche Vorteile verspricht mir meine Gewerkschaft daraus?
Der
vorgeschlagene Wissenschaftstarif
Das Ziel ist klar und legitim (S. 4): „Wissenschaftseinrichtungen (...) müssen in die Lage versetzt werden,
Wissenschaftler, die ihre Qualifikationen klar unter Beweis gestellt haben, auf
Dauer zu halten.“
Die Realisierung dieses Ziels stößt aber
auf ernste Probleme, wenn man meinen mächtigen Kolleginnen und Kollegen aus dem
Wissenschaftsrat Glauben schenkt (S. 4): „Heute
ist eine unbefristete Beschäftigung (...) praktisch mit der Unkündbarkeit
verbunden. Wissenschaftseinrichtungen stellen wissenschaftliche Mitarbeiter
unter dieser Bedingung mit guten Gründen nur sehr zurückhaltend ein.“
Zweifler, die sich jetzt fragen, warum die Institute nicht einfach jene Leute
unbefristet einstellen, die sie später vermissen, müssen ihre Antwort allein
finden. Philosophisch Angehauchten, die nun sinnieren, wie eine heile Welt ohne
diese ominöse Unkündbarkeitsregelung aussähe, verraten die ehrlichen Autoren
des Wissenschaftsrats weiter unten (S. 11): „In
den BAT-Ost wurde diese Regelung nie übernommen.“ Ja – alles Sachsen
oder was? Sind wenigstens die Ostdeutschen zufrieden mit ihrem Status Quo? Doch
der Frage wird nirgendwo nachgegangen.
Ob Unkündbarkeit die Ursache ist oder
nicht: Die Befristung (S. 4) „führt für
eine nicht geringe Anzahl hochqualifizierter Forscher zu großen Problemen.
(...) Soweit es nicht gelingt, innerhalb von zwölf Jahren eine Professur zu
erreichen, kann die Entscheidung für eine wissenschaftliche Karriere in eine
berufliche Sackgasse führen.“ Der Feststellung kann man nur beipflichten.
Die Frage ist: Was bleibt zu tun, wenn
eine Institution einen Mitarbeiter unbefristet braucht, der seinerseits gerne
dort unbefristet arbeitet? Der Wissenschaftsrat erklärt die Aufgabe für schier
unlösbar, hält aber auch einen pfiffigen Trick parat (S.4): „Eine Einschränkung
des Kündigungsschutzrechts für unbefristet beschäftigte wissenschaftliche
Mitarbeiter kann es den wissenschaftlichen Einrichtungen erleichtern, vermehrt
eine unbefristete Beschäftigung anzubieten.“
Es geht „nur“ um ein paar Maßnahmen
– alles zum Wohle der Beschäftigten, versteht sich (S. 4): „Demnach
soll der dauerhafte Wegfall einer Drittmittelfinanzierung einen
betriebsbedingten Kündigungsgrund darstellen. Im Falle einer Kündigung soll
(...) die Suche nach einer alternativen Beschäftigung (...) auf die jeweilige
Einrichtung begrenzt bleiben. Die Verpflichtung zu Umschulung und Fortbildung
zum Zwecke der Weiterbeschäftigung soll entfallen. (...)“
Hier ist hoffentlich zweierlei klar: (a)
Dieses Vorgehen ist seit Jahrzehnten die Regel – allerdings für die Dauer von
Projekten, nicht eines Arbeitslebens; denn die frühzeitig gewarnten mit Frist /
Frust Beschäftigten verlassen rechtzeitig die aussichtslose Stelle, was nun zum
Problem wird. (b) Der oben (korrekt) vorgetragene Maßnahmenkatalog könnte (fälschlich)
als hoffentlich nie eintretender Härtefall verstanden werden. In Wirklichkeit
wird er bei jedem Professorenwechsel zu erwarten sein: Jeder Neuberufene wird
eher seine Leute mitbringen wollen, und keine Institution wird es je wagen,
ihren Wunschkandidaten mehr zu vergrämen, als sie vom Gesetz her muß (s.u.).
Nach Einführung von Elite-Universitäten ist mit einer deutlichen Zuspitzung zu
rechnen: Je provinzieller und namenloser ein Wissenschaftsbetrieb ist, umso häufiger
werden ihn Professoren verlassen wollen. Und nach jedem von ihnen droht die
Sintflut.
Die Beschränkung der Änderungen auf
wissenschaftliche Mitarbeiter ist sicherlich keine Lüge; man sollte sich aber
auch nicht ultimativ darauf verlassen: Auch die Herabsetzung der WiMi-Tarife in
den 80ern (von BAT IIa auf BAT III) wurde mit dem Eigeninteresse an der
Weiterqualifikation erklärt. Warum es in einem Sog dann auch die Verwaltungskräfte
ergriff, konnte ich mir damals nicht besser als heute erklären. Da könnte ein
Passus der Empfehlungen interpretationswürdig sein (S. 17): „Eine
Trennung zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Angestellten
widerspräche dem engen Zusammenwirken aller Beschäftigtengruppen (...). Auch
die bisherige Trennung des Tarifrechts nach Arbeitern und Angestellten soll
(...) aufgegeben werden.“
Eine gesonderte Stellung der
WissenschaftlerInnen würde bei den unterbreiteten Vorschlägen ohnehin
schwerfallen, weil nunmehr Durchlässigkeit angesagt ist (S. 21): „Das
System der Eingruppierung soll eine hohe vertikale Durchlässigkeit aufweisen.
Das bisherige Laufbahnkonzept, das an der formalen Qualifikation der Beschäftigten
ansetzte und zum Beispiel für Fachhochschulabsolventen ein deutliches Hindernis
für den beruflichen Aufstieg darstellte, verträgt sich mit den vorgeschlagenen
Reformen nicht.“
So, so: Habilitation schon abgeschafft,
Promotion (z.B. für FH-Professuren) nur bedingt wichtig, jetzt auch noch
Uni-Diplom in Frage gestellt; hat denn Abitur noch Bestand, oder was soll in
Zukunft als Qualifikation gelten? Oder – anders herum: Als Nachgeborene haben
wir irgendwann gelernt, welche Debatten 1949 der Formulierung von Art. 33 Abs. 2
vorausgingen: „Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und
fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.“ Durfte
„Eignung“ als die (zuvor im Lande recht strapaziös gedeutete) „persönliche“
solche interpretiert werden? Wie spät durfte das Schlüsselwort „fachlich“
erscheinen? – etc.. Nun soll ja Professur (und erst recht die Stellen
darunter) kein Amt mehr sein. Aber wie unbefangen darf unsere Zeit damit
umgehen? Oder paßt diese Assoziation gar nicht hierhin?
(S. 21): „Die
Zuordnung von Tätigkeiten zu den (...) Vergütungsgruppen soll entsprechend dem
Grad der jeweiligen fachlichen Anforderung, der übertragenen Verantwortung,
insbesondere auch als Führungskraft, schließlich auch den Anforderungen
hinsichtlich Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit erfolgen. Die Aufzählung
ist nicht abschließend. Es soll ausdrücklich darauf verzichtet werden, die
Eingruppierung von der Art des Abschlusses abhängig zu machen.“
Könnte heißen: Niemand erwartet zwar die
Flexibilität von Praktikantinnen des Weißen Hauses. Aber zum Gedeihen im
Wissenschaftsbetrieb ist es mit ein bißchen Fach nicht getan. Auch Respekt,
Willigkeit, Ergebenheit u.v.m. (als mögliche Fortführung der o.a. „nicht
abschließen“ wollenden Aufzählung von Kommunikations- und
Kooperationsqualitäten) können jederzeit zum Wohle der Wissenschaft hinzugefügt
werden. Und dazu gibt es keinen speziellen Abschluß. Schwierig wird es evtl. in
der Qualifikationsphase, wo (noch) fachlich gearbeitet wird. (S. 21): „Insbesondere bei befristet beschäftigten Mitarbeitern bestehen außerdem
Probleme der Leistungs- oder Erfolgsbeurteilung (...), etwa (...) Promovierenden
(...).“ Aber danach ist man nur Wissenschaftsmanager und hat allenfalls
z.B. mit Autobahngebühren oder Klonen zu tun.
Das klingt alles sehr positiv – kein
Wunder, daß meine Gewerkschaft es schon immer fordert. Und leistungsbezogenes
Gehalt verspricht es auch – überhaupt: Auf 34 Seiten kommt 63mal ein Hinweis
auf „Leistung“. Ist es zugleich die Verheißung des Goldenen Zeitalters für
die Wissenschaft auf deutchem Boden? (S. 22): „Einen
Teil der Mehrkosten werden Wissenschaftseinrichtungen im Rahmen der Budgetierung
selbst erwirtschaften müssen. Die Reduktion der Beschäftigtenzahl zum Zwecke
einer erhöhten Vergütung für die Beschäftigten muss aber innerhalb enger
Grenzen verbleiben.“
Das heißt: (a) Es bleibt dabei, daß
Kannibalismus nicht strafbar ist; aber im Wissenschaftsbetrieb sollte er in
einem sittlichen Rahmen stattfinden. (b) Wenn immer noch etwas zum Sattwerden
fehlt, sollte man (es) anschaffen gehen.
Eine
fiktive Fallstudie
Eine Professur für Virologie (oder:
Daten-Sicherheit o.a.) wird durch einen 50jährigen Bewerber besetzt, der bis zu
dieser Zeit Abteilungsleiter in einem Betrieb ist; dazu bekommt er eine neue
Assistentenstelle bewilligt. Er will als erste Besetzung dieser Stelle einen 30jährigen
Wissenschaftler gewinnen, der ihm schon seit 5 Jahren mit exzellenten
Ergebnissen im Betrieb zur Seite steht.
Nach heutiger Lage ist der 30jährige
nicht zu einem Wechsel zu bewegen (solange sich sein Mentor nicht für die
Umwandlung der Stelle in eine unbefristete / unkündbare einsetzt.): Wenn er
sich auf der angebotenen Stelle weiterqualifiziert, ist er schon mit 35, spätestens
mit 42 Jahren ein schwer vermittelbarer, überqualifizierter Sozialfall.
Nach der nun vorgeschlagenen Änderung
sieht die Lage anders und doch gleich aus: Dem 30jährigen kann eine (nach dann
geltenden Regeln) unbefristete Stelle angeboten werden. Die Bezahlung ist zunächst
etwas geringer, dafür hat er aber die Möglichkeit, durch Mehrarbeit und den
daraus resultierenden leistungsbezogenen Anteil das Niveau des Industriegehalts
zu erreichen oder gar zu übersteigen – und kann Freude haben an einer
sinnvollen Tätigkeit, ohne die nervigen Typen vom Marketing und der Geschäftsführung
mit ihren unqualifizierten Versprechungen an die Kunden, die er immer wieder
glattzubügeln hat. Hinzu kommt die Option, einmal selbst die Freiheiten einer
Professur zu erleben – wenn schon nicht durch Hausberufung, dann kraft seiner
bis dahin erworbenen Qualifikation und Reputation.
Nehmen wir einmal an, alles verlaufe nun
unrealistisch optimal: Der 30jährige qualifiziert sich und erlangt eine
beneidenswerte Reputation. Und 15 Jahre später, als sein Chef emeritiert werden
soll, wird er als sein wahrscheinlichster Nachfolger gehandelt (Hausberufung hin
oder her). Doch unerwarteterweise erhält ein anderer Kandidat den Zuschlag. Und
der neue Professor will mit seiner eigenen Mannschaft anrücken und die
Virologie (alias Daten-Sicherheit) in Richtung Epidemiologie (alias
Internet-Sicherheit) lenken, was er qua RAV (Rufannahmevereinbarung) darf. Der
nunmehr 45jährige Spezialist mag immer noch exzellent arbeiten und bereit sein,
unter der Leitung seines Mitbewerbers zu arbeiten – aber letzterer will ihn
nicht (im Interesse seiner eigenen Leute); er braucht es auch nicht, denn eine
Umschulung (sofern überhaupt nötig) braucht nach dem dann geltenden Gesetz
nicht einmal thematisiert zu werden. Die benachbarte Juristische Fakultät, die
gleichzeitig überlegt, Spezialisten als Berater auf seinem Gebiet einzustellen,
erfährt nie von dem Fall, denn laut WR-/ver.di-Empfehlung wird sie erst gar
nicht gefragt; und die Querverbindung zwischen den Wissenschaften ist nicht so
augenfällig, daß der geschockte Spezialist auch diese Klinke hätte putzen
wollen.
Nun erfährt der früher beneidete und
weiterhin bewunderte aber sträflich unvorgewarnte Fachmann, daß seine
„unbefristete Stelle“ von anderer Qualität war, als er angenommen hatte.
Jetzt hat er Aussicht auf eine befristete Laborantenstelle (die laut
WR-Empfehlung auch so heißt und entsprechend dotiert ist); man hat sich
bereiterklärt, dem respektierten Wissenschaftler zuliebe den einzigen
gewerkschaftlich organisierten Laboranten mit just derselben Begründung zu
entlassen und spekuliert auf ein paar Azubis, die auf ihren Abschluß bis zum
Ende der Befristung warten.
Der 45jährige Experte kann die angebotene
Stelle sofort antreten – gewiß: zum Gehalt eines 20jährigen mit gutem
Hauptschulabschluß (zumal nicht seine Qualifikation, sondern die
ausgeschriebene Stelle maßgeblich ist), natürlich ohne Aussicht auf
leistungsbezogene Anteile (die wurden für die angerückte Mannschaft verplant);
nimmt er sie aber an, so schmälert er nicht nur sein danach zu erwartendes
Arbeitslosengeld, sondern er gefährdet sogar mit dem dann ausgehändigten
Arbeitszeugnis den Ausgang einiger Berufungsverfahren an anderen
Wissenschaftsbetrieben, auf die er noch hofft. Aber er braucht das Geld, denn
sein Sohn ist gerade in der Ausbildung und soll sich in aller Ruhe entscheiden,
ob er die angebotene „unbefristete“ Stelle bei seinem alternden Professor
annehmen soll.
Er merkt nun, wie einige seiner bisherigen
Untergebenen zunehmend hämisch reagieren – aus verständlichen Gründen:
Durch seine frühere Weigerung, Gefälligkeitsgutachten für Politik und
Industrie zu übernehmen, hat er in der Vergangenheit mehrfach die finanzielle
Absicherung ihrer (unbefristeten) Drittmittel-Stellen unnötig gefährdet und
den ganzen Betrieb in Mißkredit gebracht.
Und irgendwann erzählt ihm ein alter
Professor aus Gießen, daß er bereits in den 80ern mit solchen Fällen
konfrontiert war – damals als junger Assistent im Fachbereichsrat und bei
einem für die Betroffenen vergleichsweise günstigen gesetzlichen Rahmen.
Verzweifelt wendet sich der betroffene Mann an seine Gewerkschaft und will
wissen, was sie in jenem fernen Jahr 2004 unternommen habe, um diese irrwitzige
Entwicklung abzuwenden. Er findet aber nur eine Presseerklärung vom 2. Februar
2004.
Nachwort
Bei allem Unbehagen – der
Wissenschaftsrat ist bzgl. seiner Zielsetzung ehrlich (S. 4): „Der
Wissenschaftsrat sieht in den genannten Empfehlungen einen Beitrag, die
Autonomie von Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen zu stärken,
die Attraktivität der Arbeit in der Wissenschaft zu erhöhen, die Leistungsfähigkeit
der Wissenschaftseinrichtungen zu steigern und den Einrichtungen bessere Möglichkeiten
zu einem effizienteren Umgang mit ihren Finanzmitteln zu geben.“
Die Frage ist nur, was wir wollen:
Die Stärkung der Strukturen, oder auch das Wohl der dort arbeitenden Menschen.
Prof.
Dr.-Ing. A.
Christidis
Gießen,
12.02.2004
P.S. :
Für die Richtigstellung jedes der oben unterlaufenen Irrtümer bedankt sich der
Autor im voraus. |